Gedanken zum Hungertuch:

Als der Wunsch an mich herangetragen wurde ein Hungertuch zu gestalten war meine erster Gedanke, einen Kokon zu bilden.
Die Seidenraupe besitzt die seltene Fähigkeit aus eigener Kraft ein Gespinst zu bilden, die Kokonhülle. Im Kokon verwandelt sich die Raupe zur Puppe und erwartet ihre Umwandlung zum Schmetterling.
Kennzeichnend für das Verhüllen ist, dass die Gestalt durchscheint bzw. sich in der Form des Tuches abdrückt. Dies steht im Gegensatz zum Zuhängen, welches wirkliches Verschliessen des Sichtbaren bedeutet.
Hungertuch Detail Die Transparenz erscheint mir wichtig. Wie ein verpacktes Geschenk, dass in der Form doch schon Rückschlüsse auf sein Inneres zulässt.
Ein Durchdringen von Tuch und Kreuz im Raum ist mir ein Anliegen.
Das bedeutet der Betrachter ist nicht alleine gelassen, in der Dunkelheit, sondern er kann Dahinterliegendes erahnen, es bestimmte seine Ausrichtung.
Auch die Raupe nimmt in dem Kokon keine Nahrung zu sich. Einzig die Einkehrung in sich selber ermöglicht den Prozess der Verwandlung der Raupe in einen Schmetterling.
Das Hungertuch steht für eine Zeit der Einkehr, Fasten nicht als Selbstzweck, sondern, das die Sinne frei macht für neue religiöse Erfahrung.
Wer eine Zeit gefastet hat, weiss, dass dies kein Schwächezustand ist, die Drosselung des körperlichen Energiehaushaltes schafft hingegen erhöhte Konzentration und geistige Aufnahmefähigkeit. Neben der rein körperlichen Entschlackung erfährt der Fastende auch eine geistige Reinigung.
Fasten bedeutet in diesem Sinne kein schmerzlich empfundener Verzicht, sondern Bündelung,
Konzentration und Hinwendung zu lebensspendenden Strukturen.Planung 302
Das Gespinst der Seidenraupe greife ich in Form des gewählten Materials auf. Weisser, transparenter Seidenchiffon ist das Ausgangsmaterial für meine Gestaltung. Den Vorgang des Fastens ( Verzichten auf Fülle) versuche ich mit handwerklicher Tätigkeit nachzuzeichnen. Der Stoff wird eingekehrt, gebündelt, konzentriert auf eine kleine quadratische Fläche reduziert. In unzähligen Knoten binde ich das Material ein. Dieser rhythmische, wiederholende Vorgang kommt einer Meditation gleich.
Hungertuch Detail Es entstehen einerseits kleine Knospen (in der Natur werden diese noch vor den Winter gebildet und verharren starr bis zum Frühling), andererseits bildet sich auf deren Rückseite eine Gitterstruktur heraus, die besonders bei durchscheinendem Licht deutlich wird.
Dieses Vorgehen wiederhole ich in 40 Feldern, die für die 40 Tage der Fastenzeit stehen mögen.
Eingebunden in die 40 Felder ist ein farbiges Band. In verschieden ausgerichteten Balken knüpft es an die ursprünglich auf Hungertüchern dargestellten Heils- und Leidensgeschichten an, wie ein abgerissenes, unterbrochenes Filmband. Diese 40 Teile fügen sich auf der Fläche des Hungertuches zu einem eigenem, neuen Zusammenhang und ergeben eine weitere Wahrnehmungsfläche.
Fasten bedeutet auch Begraben, begraben von Gewohnheiten, Liebgewonnenem, eben Verzichten. Die Grabesruhe Christi ist auf 40 Stunden berechnet - von Karfreitag 15 Uhr bis Ostersonntagmorgen 7 Uhr - daraus entwickelt sich das vierzigstündige „ewige Gebet“.
Die 40 Stationen werden unterzeichnet mit einer grossen eingeschlossenen Form. Es möchte an ein Grab, an eine Wiege erinnern und den Bogen spannen von dem in Windeln gewickelten Jesuskind zu dem in Leinentüchern gewickelten Christus im Grab.

Veronika Moos-Brochhagen, Januar 2002

 

© V. Moos, 2005-09

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